| 
       Serge hat ein Bild gekauft. Ein Ölgemälde von etwa ein Meter sechzig
      auf ein Meter zwanzig, ganz in Weiß. Der Hintergrund ist weiß, und wenn
      man die Augen zusammenkneift, kann man feine weiße Querstreifen erkennen.
      Aber es ist nicht irgendein Bild, sondern ein echter Antrios. Für zwanzig
      Riesen. Geradezu ein Schnäppchen. 
      Serge liebt das Bild. Natürlich erwartet er nicht, dass alle Welt es
      liebt, aber zumindest von seinem Freund Marc kann er das erwarten. Marc
      ist verunsichert. Er zweifelt am Verstand seines Freundes ("Kauft
      sich für zwanzig Riesen ein weißes Bild.") Und für diese
      Einstellung sucht er einen Verbündeten in ihrem gemeinsamen Freund Yvan.
      Doch Yvan kann nicht erkennen, was an dem Kauf so bedenklich ist, wenn es
      Serge Spaß macht, das Bild zu kaufen, solange es niemand anderem schadet.
      Marc war Serge bisher immer dankbar, weil dieser ihn für etwas Besonderes
      angesehen hat. Aber jetzt sieht Serge seinen Antrios für etwas Besonderes
      an. Dieses "Weiße" hat Marc ausgestochen. 
      Und damit geht es längst nicht mehr um das gekauft Bild oder gar um die
      grundsätzliche Frage, was "Kunst" ist, sondern um das Bild, das
      jeder der drei Freunde sich von den anderen gemacht hat und das nun plötzlich
      in Frage gestellt ist. Serge und Marc werfen sich gegenseitig Überheblichkeit
      vor, und über Yvan regen sie sich auf, weil er immer nur genau das sagt,
      was sie hören wollen... Und über seine Beziehung zu Serge argumentiert
      Marc mit umwerfender Logik: Weil er, Marc, Serge an sich mag, aber unfähig
      ist, den Serge zu mögen, der dieses weiße Bild mag, kann es gar nicht
      sein, dass Serge dieses Bild mag. 
      "Kunst" ("Art") von Yasmina Reza wurde
      in den deutschen und französischen Premierenkritiken hervorragend
      beurteilt: "Viel Applaus gab es für ein modernes französisches
      Boulevardstück, das von Paris bis Berlin das Publikum amüsiert." 
      Freundschaften überleben auch mal einen heftigen Streit.
      Trotz solch versöhnlichem Ende und trotz einiger Slapstick-Einlagen ist
      Rezas Kunst-Stück kein gefälliges Stück. Ihre Figuren sind keine Typen
      wie in launigen Boulevardkomödien, sondern komplexe Charaktere. Zwischen
      ihnen gibt es große Unterschiede und doch eine Menge Berührungspunkte.
      Der eine kritisiert hellsichtig den Fehler des anderen und erliegt kurze
      Zeit später der Versuchung, den gleichen Fehler selber zu begehen.
      Permanent wandeln die Figuren auf einem schmalen Grat zwischen den Abgründen
      Komödie und Tragödie. Das macht das Stück so spannend. Reza präsentiert
      das eigentlich völlig undramatische Thema mit so viel Wortwitz, dass
      Langeweile nicht aufkommt. 
      Die Wirkung dieses einfallsreichen und geistsprühenden Stückes
      lässt sich nicht einmal andeutungsweise wiedergeben. Die Frage, was Kunst
      sei, beantwortet "Kunst" mit seinen witzigen und bezaubernden
      Dialogen jedenfalls eindeutig zu seinen Gunsten. 
     |