Tod unter Kindern
Frank Wedekinds Kindertragödie »Frühlings Erwachen«
1890 schreibt Wedekind sein erstes Theaterstück, das
Furore macht, »Frühlings Erwachen«, und man ist versucht, daraus im
Nachhinein das Erwachen eines neuen Jahrhunderts zu prognostizieren, das
Jahrhundert des Kindes, das Jahrhundert Freuds, das Jahrhundert der immer
weiter fortschreitenden Befreiung der Sexualität und zugleich der
fortschreitenden Sexualisierung.
Man könnte gar vermuten, die Bastionen davor müßten mühsam
geschleift werden, denn es wird wegen dieses Stücks allenthalben Zeter
und Mordio geschrien und der damals so leicht die Zunge lösende Ruf »Pornographie!«
in schönster Lautstärke angestimmt, was für uns grundiert wird von
einem heuchlerischen: was für schreckliche Erwachsene, was für arme,
arme Kinder, so völlig ahnungslos und unaufgeklärt am Rand der Pubertät!
Aber schon 15 Jahre später kann die Uraufführung
stattfinden, und nochmals fünf Jahre später entscheidet das kaiserliche
Berliner Oberverwaltungsgericht, das nicht, wie bei Schnitzlers »Reigen«,
die Zensur durchsetzt, sondern die Ernsthaftigkeit des Sujets und seiner
Behandlung durch den Autor gerichtsnotorisch macht. Und abermals 20 Jahre
später wirft man einem neuerlichen Regisseur vor, er könne das Stück
unmöglich in der Großstadt spielen lassen – so ahnungslose Kinder gebe
es dort nicht mehr.
Worum also geht es?
Um ein Stück voller Humor, will der Autor, und nennt es
doch zugleich »Kindertragödie« – ein Begriff voller Widersprüchlichkeit,
denn wie sollen Kinder, unverantwortliche Wesen im Naturzusammenhang, in
Tragisches eingebunden sein?
Es geht um die Katastrophen, in die Pubertierende
verstrickt sind, und aus denen sie manchmal keinen Ausweg mehr finden; um
Schüler, die den Erwartungen ihrer Eltern nicht gerecht zu werden vermögen;
um Mädchen, die noch an den Storch glauben, die den Kuß, die Liebe,
verwehren und nicht ahnen, wie sie trotzdem schwanger werden; um
Erwachsene, deren Verantwortung für Kinder sich nur in Verboten und
Strafen austobt, in Versuchen, die ihnen Anvertrauten zu brechen, gar in
die »Korrektionsanstalt« zu stecken.
Eine Ansammlung von Karikaturen also? Oder vielmehr, wie
Walter Benjamin meint, »das Trauerspiel vom Erwachen der eigensinnigen
Naturkraft in der Kreatur«?
Eingespannt in die verschiedenen Dilemmata – die drängende
Pubertät, die bedrohliche Schule, die verständnislosen oder unbeholfenen
Eltern und eine manchmal etwas altmodische Diktion, – tut sich ein
Regisseur heute nicht leicht, das Stück noch plausibel auf die Bühne zu
bringen, nicht zu modern und nicht zu historisierend. Manfred Plagens
beginnt seine Inszenierung für die Werkstattbühne mit einer ersten
Ungeschicklichkeit: Er hat Wendla zwei Jahre älter gemacht. Damit
freilich hat er, statt ein Problem zu lösen, noch zusätzlich ein neues:
Die Schauspielerin ist trotzdem unübersehbar kein Kind, sondern eine
junge Frau, ihre Ahnungslosigkeit in eroticis nicht weniger unglaubwürdig.
Gewiß spielt Katrin Kolb ihre Wendla, liebt mit bewegender
Anschmiegsamkeit ihre Mutter, aber deren Sprachlosigkeit in Liebesdingen
ist zum Erbarmen (»Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren
noch gar nicht lieben kannst … jetzt weißt du’s«). Wer wird sich so
mit 16 zufriedenstellen lassen?
Die Schule als Zwangsanstalt ist gegenüber Wedekind
geschrumpft auf eine letzte, strafende Befragung: hier der unerbittliche,
alte Tyrann, dort der verständislose Schüler mit Rechtfertigungsbedürfnis.
Nur ist diese Reduktion der Konstellation heute, mit Verlaub,
Schulklamotte – auch wenn sie vom Publikum mit Sonderbeifall honoriert
wird. Heute buhlt die Schule um jeden Schüler, und unter der Hand gilt
viel eher die Parole, möglichst keinen mehr durchfallen zu lassen; die
autoritäre Kraftmeierei in Schwarz-Weiß haben überwiegend subtilere
Methoden ersetzt.
Der Tod, omnipräsent im ganzen Stück, von der
Todesphantasie der Wendla und den Himmelsschlüssel-blumen der ersten
Szene bis zum Friedhof am Ende, hält schöne Ernte und macht klar:
Unwissenheit kann tödlich sein, selbst wenn sie unverschuldet ist, aber
übertriebene Wunscherfüllung gegenüber den Eltern nicht minder.
Insofern ist der Friedhof als Spielstelle der letzten Szene nur
konsequent. Daß man den freilich zum Wackelpeter gemacht hat – der
schwankende Boden als Plattform für den Kampf zwischen Leben und Tod –,
bekommt weder den Schauspielern noch den Zuschauern. Zu aufdringlich ist
die Symbolik, und zu schwer zu beherrschen der sichere Gang darauf, übertroffen
an tiefsinniger Bedeutung nur noch durch die Regenrinne, die die Zuschauer
von der Bühne trennt und in die es hineinregnen kann, wenn die Emotionen
gar zu hohe Wellen schlagen. Am Ende kommt der »Vermummte Herr«, Repräsentant
des Lebens, und zieht Melchior auf sein festes Ufer. Leider ist der »Vermummte«
gar nicht vermummt, sondern im besten Repräsentieranzug, als seien Leben
und gesellschaftliche Karriere eins. So wirkt dieser Herr nicht wie das
Geheimnis des Lebens, sondern wie der bürgerliche Tod, den die
Erwachsenen sämtlich schon gestorben sind, weswegen sie nur noch lebende
Tote geben.
Daß die Inszenierung trotzdem frisch und lebendig wirkt,
liegt vor allem am engagierten, manchmal leidenschaftlich bewegten Spiel
der jungen Darsteller der Schüler, allen voran Katrin Kolb, Christian
Diterich und Tobias Illing. Sie sind, trotz der karikierenden Züge im
einzelnen, lebendig und unverbraucht. Daß alle zusammen zum Schluß noch
wie im Konfirmanden-unterricht singen müssen, sie seien Anfänger (für
Wedekind sicher eine absurde Vorstellung, siehe das Ilse-Lied), – das
haben sie nicht verdient. Viele zuschauende Besucher dagegen schon!
Berthold Kremmler
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