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  07.10.2005

Tod unter Kindern

Frank Wedekinds Kindertragödie »Frühlings Erwachen«

1890 schreibt Wedekind sein erstes Theaterstück, das Furore macht, »Frühlings Erwachen«, und man ist versucht, daraus im Nachhinein das Erwachen eines neuen Jahrhunderts zu prognostizieren, das Jahrhundert des Kindes, das Jahrhundert Freuds, das Jahrhundert der immer weiter fortschreitenden Befreiung der Sexualität und zugleich der fortschreitenden Sexualisierung.

Man könnte gar vermuten, die Bastionen davor müßten mühsam geschleift werden, denn es wird wegen dieses Stücks allenthalben Zeter und Mordio geschrien und der damals so leicht die Zunge lösende Ruf »Pornographie!« in schönster Lautstärke angestimmt, was für uns grundiert wird von einem heuchlerischen: was für schreckliche Erwachsene, was für arme, arme Kinder, so völlig ahnungslos und unaufgeklärt am Rand der Pubertät!

Aber schon 15 Jahre später kann die Uraufführung stattfinden, und nochmals fünf Jahre später entscheidet das kaiserliche Berliner Oberverwaltungsgericht, das nicht, wie bei Schnitzlers »Reigen«, die Zensur durchsetzt, sondern die Ernsthaftigkeit des Sujets und seiner Behandlung durch den Autor gerichtsnotorisch macht. Und abermals 20 Jahre später wirft man einem neuerlichen Regisseur vor, er könne das Stück unmöglich in der Großstadt spielen lassen – so ahnungslose Kinder gebe es dort nicht mehr.

Worum also geht es?

Um ein Stück voller Humor, will der Autor, und nennt es doch zugleich »Kindertragödie« – ein Begriff voller Widersprüchlichkeit, denn wie sollen Kinder, unverantwortliche Wesen im Naturzusammenhang, in Tragisches eingebunden sein?

Es geht um die Katastrophen, in die Pubertierende verstrickt sind, und aus denen sie manchmal keinen Ausweg mehr finden; um Schüler, die den Erwartungen ihrer Eltern nicht gerecht zu werden vermögen; um Mädchen, die noch an den Storch glauben, die den Kuß, die Liebe, verwehren und nicht ahnen, wie sie trotzdem schwanger werden; um Erwachsene, deren Verantwortung für Kinder sich nur in Verboten und Strafen austobt, in Versuchen, die ihnen Anvertrauten zu brechen, gar in die »Korrektionsanstalt« zu stecken.

Eine Ansammlung von Karikaturen also? Oder vielmehr, wie Walter Benjamin meint, »das Trauerspiel vom Erwachen der eigensinnigen Naturkraft in der Kreatur«?

Eingespannt in die verschiedenen Dilemmata – die drängende Pubertät, die bedrohliche Schule, die verständnislosen oder unbeholfenen Eltern und eine manchmal etwas altmodische Diktion, – tut sich ein Regisseur heute nicht leicht, das Stück noch plausibel auf die Bühne zu bringen, nicht zu modern und nicht zu historisierend. Manfred Plagens beginnt seine Inszenierung für die Werkstattbühne mit einer ersten Ungeschicklichkeit: Er hat Wendla zwei Jahre älter gemacht. Damit freilich hat er, statt ein Problem zu lösen, noch zusätzlich ein neues: Die Schauspielerin ist trotzdem unübersehbar kein Kind, sondern eine junge Frau, ihre Ahnungslosigkeit in eroticis nicht weniger unglaubwürdig. Gewiß spielt Katrin Kolb ihre Wendla, liebt mit bewegender Anschmiegsamkeit ihre Mutter, aber deren Sprachlosigkeit in Liebesdingen ist zum Erbarmen (»Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst … jetzt weißt du’s«). Wer wird sich so mit 16 zufriedenstellen lassen?

Die Schule als Zwangsanstalt ist gegenüber Wedekind geschrumpft auf eine letzte, strafende Befragung: hier der unerbittliche, alte Tyrann, dort der verständislose Schüler mit Rechtfertigungsbedürfnis. Nur ist diese Reduktion der Konstellation heute, mit Verlaub, Schulklamotte – auch wenn sie vom Publikum mit Sonderbeifall honoriert wird. Heute buhlt die Schule um jeden Schüler, und unter der Hand gilt viel eher die Parole, möglichst keinen mehr durchfallen zu lassen; die autoritäre Kraftmeierei in Schwarz-Weiß haben überwiegend subtilere Methoden ersetzt.

Der Tod, omnipräsent im ganzen Stück, von der Todesphantasie der Wendla und den Himmelsschlüssel-blumen der ersten Szene bis zum Friedhof am Ende, hält schöne Ernte und macht klar: Unwissenheit kann tödlich sein, selbst wenn sie unverschuldet ist, aber übertriebene Wunscherfüllung gegenüber den Eltern nicht minder. Insofern ist der Friedhof als Spielstelle der letzten Szene nur konsequent. Daß man den freilich zum Wackelpeter gemacht hat – der schwankende Boden als Plattform für den Kampf zwischen Leben und Tod –, bekommt weder den Schauspielern noch den Zuschauern. Zu aufdringlich ist die Symbolik, und zu schwer zu beherrschen der sichere Gang darauf, übertroffen an tiefsinniger Bedeutung nur noch durch die Regenrinne, die die Zuschauer von der Bühne trennt und in die es hineinregnen kann, wenn die Emotionen gar zu hohe Wellen schlagen. Am Ende kommt der »Vermummte Herr«, Repräsentant des Lebens, und zieht Melchior auf sein festes Ufer. Leider ist der »Vermummte« gar nicht vermummt, sondern im besten Repräsentieranzug, als seien Leben und gesellschaftliche Karriere eins. So wirkt dieser Herr nicht wie das Geheimnis des Lebens, sondern wie der bürgerliche Tod, den die Erwachsenen sämtlich schon gestorben sind, weswegen sie nur noch lebende Tote geben.

Daß die Inszenierung trotzdem frisch und lebendig wirkt, liegt vor allem am engagierten, manchmal leidenschaftlich bewegten Spiel der jungen Darsteller der Schüler, allen voran Katrin Kolb, Christian Diterich und Tobias Illing. Sie sind, trotz der karikierenden Züge im einzelnen, lebendig und unverbraucht. Daß alle zusammen zum Schluß noch wie im Konfirmanden-unterricht singen müssen, sie seien Anfänger (für Wedekind sicher eine absurde Vorstellung, siehe das Ilse-Lied), – das haben sie nicht verdient. Viele zuschauende Besucher dagegen schon!

Berthold Kremmler 

 

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